Dreharbeiten in Tamaquito

Während der Dreharbeiten in Alt-Tamaquito haben wir im Dorf in einer leer stehenden Hütte gewohnt, eine zweite konnten wir als „Büro“ nutzen, wo das Bild- und Tonmaterial kopiert und die ganze Technik lagerte. Dadurch haben wir am Dorfleben teilgenommen und umgekehrt hat die Dorfgemeinschaft unsere täglichen Abläufe, unseren Umgang untereinander, die technischen Aspekte der Filmarbeit und unsere Arbeitsbesprechungen erlebt. Es gibt praktisch keine Privatsphäre, denn das gesamte Leben spielt sich draußen ab; nur die Hängematten zum Schlafen befinden sich in den Hütten. Man trifft sich an der Wasserstelle, beim Waschen, beim Essen. Wir waren neugierig und die Leute in Tamaquito waren auch sehr neugierig; daraus haben sich viele lustige Situationen entwickelt. Jeder Aspekt unserer Arbeit im Dorf war für alle sichtbar; das war sicher ein wichtiger Faktor bei der Vertrauensbildung. Ein entscheidender Moment in der Beziehung zum Dorf war die zweite Drehphase. Wir hatten uns am Ende der ersten Drehphase mit dem Versprechen verabschiedet, dass wir wiederkommen würden. Mein Gefühl war, dass die letzten Zweifel an unserer Glaubwürdigkeit beseitigt waren, als wir Wort hielten.

Wir wurden von Beginn an wie Mitglieder der Dorfgemeinschaft behandelt. Die Entscheidung, uns in dieser Form aufzunehmen, war bereits vor dem Beginn der Dreharbeiten getroffen worden. Sie war Voraussetzung, um an internen Beratungen des Gemeinderates teilnehmen und dort drehen zu können. Alle Teammitglieder wurden in die regelmäßig stattfindenden spirituellen Rituale einbezogen, sowohl bei den Reinigungszeremonien als auch bei den Tänzen und den traditionellen Wettkämpfen.
Die Produktionsleiterin unseres Films ist Kolumbianerin. Als einzige Frau im Team war sie eine Schlüsselperson, die mit den Frauen und Kindern im Dorf Kontakt aufnehmen konnte. Sie hat viel Zeit mit ihnen verbracht und auf diese Weise Informationen erhalten, die man niemals erhält, wenn sie direkt abgefragt werden.
Alle Mitglieder unseres Teams waren sehr offen, dadurch haben die meisten Leute in Tamaquito Vertrauen gefasst. Der Kameramann und der Kameraassistent verstehen kein Spanisch. Das war überhaupt kein Hindernis, daraus sind im Gegenteil eine Menge komischer Momente entstanden, die das Team und die Dorfgemeinschaft einander näher gebracht haben.
Als ich 2011 zum ersten Mal in Tamaquito war, habe ich der Dorfgemeinschaft von Tamaquito die Filmidee vorgestellt. Es wurde dann in einer Vollversammlung darüber abgestimmt. Die Antwort lautete „Ja“; man war der Meinung, dass es gut sei, den Ereignissen rund um den Kohletagebau öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Gleichzeitig wurde vereinbart, dass die Bilder, die wir mitnehmen, wieder nach Tamaquito zurückkommen sollen. Eine Kopie des Films sowie Teile des Rohmaterials sollen als Archiv für die Leute in Tamaquito zur Verfügung stehen. Durch die anstehende Umsiedlung und die damit verbundenen Veränderungen ist die Gemeinschaft vom Volk der Wayúu ganz konkret mit Fragen konfrontiert: Wie haben unsere Vorfahren gelebt? Wie wollen wir in Zukunft leben? Was macht unsere Identität aus?
Jairo Fuentes hat als weitsichtiger Anführer sofort erkannt, dass das Rohmaterial ein audiovisuelles Gedächtnis für Tamaquito ist und nach der Umsiedlung vor allem für die nächste Generation von Bedeutung werden könnte. Normalerweise verlässt Rohmaterial natürlich niemals den Schneideraum, in diesem besonderen Fall ist eine Ausnahme gerechtfertigt.
Tamaquito liegt an der Grenze zu Venezuela im äußersten Nord-Osten Kolumbiens. Hier ist die FARC-Guerilla bis heute sehr aktiv. Außerdem wird alles Mögliche über die Grenze geschmuggelt, vor allem Benzin aus Venezuela. Regelmäßig finden bewaffnete Konfrontationen zwischen den Schmugglern und der Polizei sowie zwischen der Armee und der Guerilla statt.
Jairo Fuentes sagte unserem Team vor Beginn der Dreharbeiten: „Wir möchten, dass ihr alle so wieder nach Hause fahrt, wie ihr gekommen seid. Deswegen müsst ihr alle Sicherheitsregeln genauestens einhalten.“ Wir sind nach Einbruch der Dunkelheit und außerhalb des Dorfes nur in Begleitung von Leuten aus Tamaquito unterwegs gewesen.
Die kolumbianische Armee hat fast jede Nacht aus ihren Stellungen auf dem Gebiet der Kohlemine heraus die Lager der Guerilla in den Bergen hinter Tamaquito mit Granaten beschossen. Dank der Umsicht der Dorfbewohner hat unser Team während der Dreharbeiten jedoch keinen einzigen wirklich bedrohlichen Zwischenfall erlebt.
Die Mitarbeiter des Bergbaukonzerns dagegen haben sich nur mit umfangreich bewaffnetem Geleitschutz nach Tamaquito gewagt. Sie leben in permanenter Angst vor Anschlägen durch die Guerilla. Als der Präsident des Cerrejón-Konzerns, Roberto Junguito, mit seiner Frau und seinen Kindern dem neuen Dorf einen Besuch abstattete, um den Leuten aus Tamaquito zu ihren schönen neuen Häusern zu gratulieren, rollte ein ewiger Konvoi gepanzerter Limousinen mit schwarzen Scheiben ins Dorf, begleitet von einer Spezialeinheit der Armee.
Eine der schwierigsten Einstellungen war die Sprengung im Kohletagebau. Jeden Tag um 12.45 Uhr wird eine Fläche von 2-3 ha in einer der Kohlegruben von „Cerrejón“ gesprengt. Eine riesige Staubwolke erhebt sich danach und verteilt sich je nach Wind in der Umgebung. Der Staub verursacht eine massive Beeinträchtigung der Lebensqualität der Menschen, die in Grubennähe leben. Ernteausfälle sowie Haut- und Atemwegserkrankungen sind die Folgen. Ein Bild dieser physischen Gewalt, die dem Land und den Menschen Tag für Tag wiederfährt, wollten wir daher für den Film aufnehmen. Da jeden Tag woanders gesprengt wird, konnten wir uns nur auf gut Glück postieren. Wie viele Versuche wir auch unternahmen, die Sprengungen fanden immer außerhalb des Blickfeldes unserer Kamera statt. Schließlich fragten wir beim Präsidenten von Cerrejón persönlich an, ob man uns informieren könne, wann und wo gesprengt würde. Die Sprengungen zu filmen sei zu gefährlich, war die Antwort, obwohl wir von einem Standpunkt außerhalb des Werksgeländes drehen wollten, der gut 2 km Luftlinie von der Explosion entfernt lag. Schlimmer noch: Nachdem der Konzern nun wusste, dass wir auf der Jagd nach einem Bild der Sprengung waren, wurden die Uhrzeiten variiert. Jahrelang hat die Sprengung täglich um 12.45 Uhr stattgefunden. Plötzlich sprengten sie um 16.00 Uhr, um 18.00 Uhr, um 12.15 Uhr… Es begann ein Katz- und Mausspiel, das wir schließlich beenden konnten, indem wir den Kontakt zu einem Mitarbeiter der Mine herstellten. Er teilte uns morgens in einer verschlüsselten Botschaft telefonisch mit, wo und wann heute gesprengt würde.
Die Besonnenheit und Umsicht von Jairo Fuentes, dem Anführer der Dorfgemeinschaft, hat uns immer wieder beeindruckt. Einmal baten wir ihn, uns auf die Bergkette zu führen, die sich zwischen Alt-Tamaquito und der Kohlegrube „Tabaco“, die zum Cerrejón-Komplex gehört, erhebt. Von dort wollten wir für den Film ein Bild machen, in dem die Nähe der Kohlegrube zum Dorf erkennbar wird. Jairo wusste, dass dieses Bild für den Film von großer Bedeutung sein würde. Er sagte: „Dorthin kann ich euch nicht bringen. Der Berg gehört zum Gebiet von los del monte.“ Los del monte („die aus dem Wald“), so nennt man hier die FARC-Guerilla. Die Dorfgemeinschaft Tamaquito liegt genau auf der Frontlinie des Krieges zwischen der kolumbianischen Armee und der Guerilla. Die Armee soll den reibungslosen Kohleabbau gewährleisten, die Guerilla bekämpft internationale Großkonzerne wie Cerrejón mit Gewalt in Form von Brand- und Sprengstoffanschlägen. Seit 10 Jahren gelingt es Jairo, sich von keiner Seite vereinnahmen zu lassen und die Unabhängigkeit der Dorfgemeinschaft bewahren. Dank seines diplomatischen Geschicks konnte er beide Seiten weitgehend auf Distanz halten und so bis heute die Souveränität des Dorfes gewährleisten.