Sumak Kawsay – El buen vivir

„Sumak Kawsay“ bedeutet wörtlich übersetzt das gute Leben oder auf Spanisch el buen vivir und bezeichnet die traditionelle Weltanschauung der indigenen Völker Südamerikas, die entlang des Andengebirges leben. Diese Weltanschauung beschreibt unter anderem einen sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen Lebensentwurf. Dem zufolge ist der Mensch dazu angehalten, sein Volk verantwortungsvoll zu führen, die Gemeinschaft zu stärken und in Harmonie mit der Natur zu leben. Grundlage ist das Verständnis, dass der Mensch eine Einheit mit allen anderen Elementen des Kosmos bildet, die sich gemeinsam in einem ewigen Zyklus der Erneuerung befinden. Das Streben nach Anhäufung von Gütern über den eigenen Bedarf hinaus und die Vorstellung einer linearen Entwicklung im Sinne „morgen besser als heute“ existieren nicht.
Beim Weltsozialforum 2010 im brasilianischen Porto Alegre wurde „Sumak Kawsay“ erstmals auf internationaler Ebene diskutiert. Das Weltsozialforum findet seit 2001 jährlich an wechselnden Orten statt und gilt als Gegenveranstaltung zu den Wirtschaftsgipfeln der Welthandelsorganisation (WTO) und der G-8 Staaten sowie zum Weltwirtschaftsforum in Davos (WEF). Die „Sumak Kawsay“ genannte Weltanschauung wird als mögliche Alternative zur gegenwärtigen Auffassung von Wohlstand, Fortschritt und Wachstum verstanden. Bis heute folgen alle großen Volkswirtschaften dieser Auffassung, die der amerikanische Präsident Harry S. Truman nach dem Ende des 2. Weltkriegs mit folgenden Worten beschrieb: „Größere Produktion ist der Schlüssel zu Wohlstand und Frieden. Und der Schlüssel zu größerer Produktion ist eine stärkere und energischere Anwendung von modernem wissenschaftlichem und technischem Wissen.“
In den beiden südamerikanischen Ländern Ecuador und Bolivien wurde das „gute Leben“ in den jeweiligen Verfassungen als Staatsziel festgeschrieben.

Entstehung des Films

Recherchereisen

Kolumbien war im Jahr 2011 erstmals Deutschlands größter Steinkohlelieferant. Aus diesem Anlass besuchte eine aus Deutschen und Schweizern bestehende Reisegruppe, zu der auch ein Mitglied des deutschen Bundestages gehörte, mehrere Dörfer im Nordosten Kolumbiens. Man wollte herausfinden, unter welchen Umständen die Kohle in dem südamerikanischen Land abgebaut wurde, in dem die bewaffneten Konflikte zwischen Guerilla, kriminellen Banden und der kolumbianischen Armee immer wieder aufflackern. Der Filmemacher Jens Schanze schloss sich der Reisegruppe an, um Informationen über den Kohleabbau zu sammeln und sich ein eigenes Bild der Situation zu machen.
Die mentale Verfassung der Menschen in den vom Kohlebergbau betroffenen Dörfern war erschütternd; sie waren verzweifelt und wie gelähmt vom Gefühl der Ohnmacht aufgrund des in vielen Fällen rücksichtslosen Verhaltens der Bergbaukonzerne. Sie litten unter den Folgen des Kohleabbaus: Staub, Lärm, Wasserknappheit und den daraus resultierenden Ernteeinbußen sowie dem drohenden Verlust ihres Lebensraumes. Noch dazu war den Menschen überall das Zusammengehörigkeitsgefühl abhanden gekommen. Die Konzerne hatten die Dorfgemeinschaften erfolgreich geschwächt oder zerstört. Organisierter Widerstand war aus dieser Verfassung heraus nicht möglich, jede Familie kämpfte angesichts der existenziellen Bedrohung um das eigene Überleben. Auf Unterstützung seitens staatlicher Institutionen konnten die Menschen nicht hoffen. Im Gegenteil: Der Präsident Kolumbiens, Manual Santos, bezeichnete die Bergbauindustrie als Lokomotive für die Entwicklung des Landes. Sondereinheiten der kolumbianischen Armee wurden in den Abbaugebieten stationiert, um den reibungslosen Betrieb der Kohleminen zu gewährleisten.

Jens Schanze beschreibt seine erste Begegnung mit der Dorfgemeinschaft Tamaquito folgendermaßen:
Tamaquito befand sich in der gleichen Bedrohungslage wie die übrigen Dörfer. Hier war die Stimmung jedoch völlig anders. Es gab keine Anzeichen von Resignation. Die Gemeinschaft wirkte stark, selbstbewusst, und wurde von einem jungen Mann angeführt, der eine unaufdringliche Autorität und Souveränität ausstrahlte. Wodurch gelang es den Menschen hier, die Integrität ihrer Gemeinschaft zu bewahren und mit den Vertretern des Bergbaukonzerns offenbar auf Augenhöhe zu verhandeln? Ich hatte eine kleine Recherchekamera dabei, die ich in Tamaquito mit dem Bewusstsein einsetzte: Das ist der Ort, an dem der Film entstehen soll. Am Ende des nur etwa drei Stunden währenden Besuchs der Reisegruppe fragte ich Jairo Fuentes, den jungen Anführer, ob er sich vorstellen könnte, dass wir den Umsiedlungsprozess von Tamaquito filmisch begleiten. Das müsse die Vollversammlung der Gemeinschaft entscheiden, war seine Antwort. Er sagte auch: „Ich sehe aber kein Problem darin. Wir beide kämpfen den gleichen Kampf.“ Mit diesen Worten verabschiedeten wir uns im September 2011.

Die Vollversammlung gab ihre Zustimmung. Es dauerte mehr als ein Jahr, bis der Film inhaltlich entwickelt und weitgehend finanziert war. Im Januar 2013 konnten die Dreharbeiten in Tamaquito schließlich beginnen.

Chronologie der Filmentstehung „La buena vida – Das gute Leben“

  • Mai 2011 erste Begegnung mit dem Thema „Kohleimporte aus Kolumbien“, Beginn der Recherche
  • September 2011 Recherche in Kolumbien, erste Begegnung mit der Dorfgemeinschaft Tamaquito
  • Nov. 2011-Nov. 2012 Projektentwicklung, Hintergrundrecherche, Verfassung des Treatments (Drehvorlage), Finanzierungphase des Filmprojekts
  • 21.Dez. 2012 erster Drehtag in Kamp-Lintfort (NRW) anlässlich Schließung Kohlebergwerk-West
  • Jan. -Feb.2013 erste Drehphase in Kolumbien: Tamaquito (alt), das Leben vor der Umsiedlung; Gespräche mit Bergbaukonzern „Cerrejón“ über Dreharbeiten während der Verhandlungen zwischen Konzern und Dorfgemeinschaft – Ergebnis: Konzern gibt Einverständnis zu den Dreharbeiten
  • April/Mai 2013 Dreharbeiten im Port of Rotterdam (größtes Kohleterminal Europas), bei Hauptversammlung der RWE AG in Essen, Sprengung des alten Förderturms der Zeche Walsum-Voerde
  • Mai 2013 zweite Drehphase in Kolumbien: Verhandlungen zwischen Konzern und Dorfgemeinschaft, Baustelle von Neu -Tamaquito, Erkenntnisse über fehlende Wasserversorgung am neuen Standort
  • August 2013 Schließung der Finanzierung des Filmprojekts; dritte Drehphase in Kolumbien: Abschluss der Verhandlungen zwischen Konzern und Dorfgemeinschaft, Zusage des Konzerns bezgl. Gewährleistung ausreichender Lebensgrundlage am neuen Standort inkl. Wasserversorgung, Vertragsunterzeichnung zwischen Konzern und Dorfgemeinschaft, Umsiedlung
  • September 2013 Beginn der Postproduktion (Transkription /Übersetzung aller Dialoge, Sichtung des Rohmaterials)
  • Dezember 2013 – Januar 2014 erste Schnittphase
  • Jan.-Feb. 2014 vierte Drehphase in Kolumbien: wie geht das Leben in Neu-Tamaquito? Verzweiflung, weil es kaum Wasser gibt und nichts wächst; Zorn, weil der Konzern seine Zusagen nicht einhält und den schriftlichen Vertrag gebrochen hat, Dreharbeiten im Kohlehafen des „Prodeco“-Konzerns („Cerrejón“ hatte die Drehgenehmigung für ihren eigenen Hafen Puerto Bolívar verweigert)
  • März/April 2014 zweite Schnittphase
  • Mai 2014 Reise Jairo Fuentes (Anführer der Dorfgemeinschaft) in die Schweiz auf Einladung der NGO’s „Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien“ und „Multiwatch“, Dreharbeiten anlässlich Jairos Rede vor den Aktionären des Rohstoffkonzerns „Glencore plc“ in Zug
  • Mai-September 2014 dritte und letzte Schnittphase, Schnitt der Dialogszenen in Wayuunaiki-Sprache mit Übersetzungshilfe durch Jairo Fuentes in München
  • August 2014 „Cerrejón“ verbreitet eine schriftliche Erklärung, in der Nachbesserungen bei der Wasserversorgung in Tamaquito angekündigt werden
  • Oktober–Dezember 2014 Bild-und Ton-Postproduktion (Colorgrading, Sound Design, Tonmischung)
  • März 2015 Uraufführung des Films vor der Dorfgemeinschaft in Tamaquito / Kolumbien; Kolumbienpremiere des Films beim Festival Internacional de Cine de Cartagena
  • April 2015 Internationale Premiere des Films beim Festival international de cinéma „Visions du Réel“ in Nyon, Schweiz (ACHTUNG: SPERRFRIST 1. APRIL 2015)
  • Mai 2015 Deutschlandpremiere des Films beim Internationalen Dokumentarfilmfestival München „Dokfest“ und bundesweiter Kinostart am 14. Mai 2015 (ACHTUNG: SPERRFRIST 15. APRIL 2015)
  • Statistik Projektlaufzeit 4 Jahre, 160 Stunden Rohmaterial, 70 Drehtage, Teamgröße 6 Personen (Regie, Regieassistenz, Kamera, Kameraassistenz, Ton, Produktionsleitung)

Dreharbeiten

Während der Dreharbeiten in Alt-Tamaquito haben wir im Dorf in einer leer stehenden Hütte gewohnt, eine zweite konnten wir als „Büro“ nutzen, wo das Bild- und Tonmaterial kopiert und die ganze Technik lagerte. Dadurch haben wir am Dorfleben teilgenommen und umgekehrt hat die Dorfgemeinschaft unsere täglichen Abläufe, unseren Umgang untereinander, die technischen Aspekte der Filmarbeit und unsere Arbeitsbesprechungen erlebt. Es gibt praktische keine Privatsphäre, denn das gesamte Leben spielt sich draußen ab; nur die Hängematten zum Schlafen befinden sich in den Hütten. Man trifft sich an der Wasserstelle, beim Waschen, beim Essen. Wir waren neugierig und die Leute in Tamaquito waren auch sehr neugierig; daraus haben sich viele lustige Situationen entwickelt. Jeder Aspekt unserer Arbeit im Dorf war transparent; das war sicher ein wichtiger Faktor bei der Vertrauensbildung.

Das Team wurde von Beginn an als Teil der Dorfgemeinschaft betrachtet. Die Entscheidung, uns in dieser Form aufzunehmen, war offenbar bereits vor dem Beginn der Dreharbeiten und der Ankunft des Teams getroffen worden. Sie war Voraussetzung, um an internen Beratungen des Gemeinderates teilnehmen und dort drehen zu können. Alle Teammitglieder wurden in die regelmäßig stattfindenden spirituellen Rituale einbezogen, sowohl bei den Reinigungszeremonien als auch bei den Tänzen und den traditionellen Wettkämpfen.


Die Produktionsleiterin unseres Films ist Kolumbianerin. Als einzige Frau im Team war sie eine Schlüsselperson, die mit den Frauen und Kindern im Dorf Kontakt aufnehmen konnte. Sie hat viel Zeit mit ihnen verbracht und auf diese Weise Informationen erhalten, die man niemals erhält, wenn sie direkt abgefragt werden. 
Alle Mitglieder unseres Teams waren sehr offen, dadurch haben die meisten Leute in Tamaquito Vertrauen gefasst. Der Kameramann und der Kameraassistent verstehen kein Spanisch. Das war überhaupt kein Hindernis, daraus sind im Gegenteil eine Menge komischer Momente entstanden, die das Team und die Dorfgemeinschaft einander näher gebracht haben.

Als ich 2011 zum ersten Mal in Tamaquito war, habe ich der Dorfgemeinschaft von Tamaquito die Filmidee vorgestellt. Es wurde dann in einer Vollversammlung darüber abgestimmt. Die Antwort lautete „Ja“; man war der Meinung, dass die es gut sei, den Ereignissen rund um den Kohletagebau öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Gleichzeitig wurde vereinbart, dass die Bilder, die wir mitnehmen, wieder nach Tamaquito zurückkommen sollen. Eine Kopie des Films sowie Teile des Rohmaterials sollen als Archiv für die Leute in Tamaquito zur Verfügung stehen. Durch die anstehende Umsiedlung und die damit verbundenen Veränderungen ist die Gemeinschaft vom Volk der Wayúu ganz konkret mit Fragen konfrontiert: Wie haben unsere Vorfahren gelebt? Wie wollen wir in Zukunft leben? Was macht unsere Identität aus?

Jairo Fuentes hat als weitsichtiger Anführer sofort erkannt, dass das Rohmaterial ein audiovisuelles Gedächtnis für Tamaquito sein und nach der Umsiedlung vor allem für die nächste Generation von Bedeutung werden könnte. Normalerweise verlässt Rohmaterial natürlich niemals den Schneideraum, in diesem besonderen Fall ist eine Ausnahme gerechtfertigt.

Tamaquito liegt an der Grenze zu Venezuela im äußersten Nord-Osten Kolumbiens. Hier ist die FARC-Guerilla bis heute sehr aktiv. Außerdem wird alles Mögliche über die Grenze geschmuggelt, vor allem Benzin aus Venezuela. Regelmäßig finden bewaffnete Konfrontationen zwischen den Schmugglern und der Polizei sowie zwischen der Armee und der Guerilla statt. 
Jairo Fuentes sagte unserem Team vor Beginn der Dreharbeiten: „Wir möchten, dass ihr alle so wieder nach Hause fahrt, wie ihr gekommen seid. Deswegen müsst ihr alle Sicherheitsregeln genauestens einhalten.“ Wir sind nach Einbruch der Dunkelheit und außerhalb des Dorfes nur in Begleitung von Leuten aus Tamaquito unterwegs gewesen.
Die kolumbianische Armee hat fast jede Nacht aus ihren Stellungen auf dem Gebiet der Kohlemine heraus die Lager der Guerilla in den Bergen hinter Tamaquito mit Granaten beschossen. Dank der Umsicht der Dorfbewohner hat unser Team während der Dreharbeiten jedoch keinen einzigen wirklich bedrohlichen Zwischenfall erlebt.

Die Mitarbeiter des Bergbaukonzerns dagegen haben sich nur mit umfangreich bewaffnetem Geleitschutz nach Tamaquito gewagt. Sie leben in permanenter Angst vor Anschlägen durch die Guerilla. Als der Präsident des Cerrejón-Konzerns, Roberto Junguito, mit seiner Frau und seinen Kindern dem neuen Dorf einen Besuch abstattete, um den Leuten aus Tamaquito zu ihren schönen neuen Häusern zu gratulieren, rollte ein ewiger Konvoi gepanzerter Limousinen mit schwarzen Scheiben ins Dorf, begleitet von einer Spezialeinheit der Armee.

Eine der schwierigsten Einstellungen wir die Sprengung im Kohletagebau. Jeden Tag um 12.45 Uhr wird eine Fläche von 2-3 ha in einer der Kohlegruben von „Cerrejón“ gesprengt. Eine riesige Staubwolke erhebt sich danach und verteilt sich je nach Wind in der Umgebung. Der Staub verursacht eine massive Beeinträchtigung der Lebensqualität der Menschen, die ihn Grubennähe leben. Ernteausfälle sowie Haut- und Atemwegserkrankungen sind die Folge. Ein Bild dieser physischen Gewalt, die dem Land und den Menschen Tag für Tag wiederfährt, wollten wir daher für den Film aufnehmen. Da jeden Tag woanders gesprengt wird, konnten wir uns nur auf gut Glück postieren. Wie viele Versuche wir auch unternahmen, die Sprengungen fanden immer außerhalb des Blickfeldes unserer Kamera statt. Schließlich fragten wir beim Präsidenten von Cerrejón persönlich an, ob man uns informieren könne, wann und wo gesprengt würde. Die Sprengungen zu filmen sei zu gefährlich, war die Antwort, obwohl wir von einem Standpunkt außerhalb des Werksgeländes drehen wollten, der gut 2 km Luftlinie von der Explosion entfernt lag. Schlimmer noch: Nachdem der Konzern nun wusste, dass wir auf der Jagd nach einem Bild der Sprengung waren, variierten sie die Uhrzeiten. Jahrelang hat die Sprengung immer um 12.45 Uhr stattgefunden. Plötzlich sprengten sie mal um 16.00 Uhr, um 18.00 Uhr, um 12.15 Uhr… Schließlich gelang es uns, über einen Mittelsmann Kontakt zu einem Mitarbeiter des Sprengkommandos herzustellen. Er hat uns morgens telefonisch mitgeteilt, wo heute gesprengt würde. Da Telefongespräche abgehört werden, informierte er uns darüber „auf welcher Weide die Schafe heute stehen.“

Die Besonnenheit und Umsicht von Jairo Fuentes, dem Anführer der Dorfgemeinschaft, hat uns immer wieder beeindruckt. Einmal baten wir ihn, uns auf die Bergkette zu führen, die sich zwischen Alt-Tamaquito und der Kohlegrube „Tabaco“, die zum Cerrejón-Komplex gehört, erhebt. Von dort wollten wir für den Film ein Bild machen, in dem die Nähe der Kohlegrube zum Dorf erkennbar wird. Jairo wusste, dass dieses Bild für den Film von großer Bedeutung sein würde. Er sagte: „Dorthin kann ich euch nicht bringen. Der Berg gehört zum Gebiet von los del monte.“ Los del monte („die aus dem Wald“), so nennt man hier die FARC-Guerilla. Die Dorfgemeinschaft Tamaquito liegt genau auf der Frontlinie des Krieges zwischen der kolumbianischen Armee und der Guerilla. Die Armee soll den reibungslosen Kohleabbau gewährleisten, die Guerilla bekämpft internationale Großkonzerne wie Cerrejón mit Gewalt in Form von Brand- und Sprengstoffanschlägen. Seit 10 Jahren gelingt es Jairo, sich von keiner Seite vereinnahmen zu lassen und die Unabhängigkeit der Dorfgemeinschaft bewahren. Dank seines diplomatischen Geschicks konnte er beide Seiten weitgehend auf Distanz halten und so bis heute die Souveränität des Dorfes gewährleisten.

In Tamaquito leben 35 Familien, etwa 180 Personen. Die Fläche des alten Dorfes betrug 10 ha. Die angrenzenden Wälder standen der Dorfgemeinschaft offen für die Jagd, als Anbauflächen und für die Haltung der Tiere. Als der Kohleabbau in der Cerrejón-Mine Mitte der 1980er Jahre begann, fing der Bergbaukonzern an, das gesamte Land um Tamaquito herum aufzukaufen. Der Bewegungsspielraum der Dorfbewohner wurde im Laufe der Jahre immer kleiner und beschränkte sich schließlich auf die 10 ha Dorffläche – viel zu wenig, um die Dorfgemeinschaft mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen.

2001 wird das Nachbardorf „Tabaco“ durch den Bergbaukonzern „Cerrejón“ und Einheiten von kolumbianischer Armee und Polizei gewaltsam geräumt und zerstört. Seitdem ist die Dorfgemeinschaft Tamaquito in Alarmbereitschaft. 2006 beginnen die ersten Gespräche zwischen Konzernvertretern und der Dorfgemeinschaft. Im gleichen Jahr (2006) übernimmt Jairo Fuentes im Alter von 24 Jahren den Vorsitz des Gemeinderates von Tamaquito. Bis heute ist er der Anführer der Dorfgemeinschaft.

Der Standort von Neu-Tamaquito liegt etwa 30 km Luftlinie vom alten Standort entfernt. Alt-Tamaquito, das Jairos Großvater 1965 begründet hat, liegt in den bewaldeten Bergen im Grenzgebiet zu Venezuela. Es gibt mehrere Wasserquellen im Dorf und den Río Ranchería, der fußläufiger Entfernung liegt. Die Trinkwasserversorgung war jederzeit gesichert.

Neu-Tamaquito liegt in der flachen Steppenlandschaft, aus der sich weiter westlich die Sierra Nevada de Santa Marta erhebt. Den 35 Familien stehen hier 300 ha Land zur Verfügung, die zu einer Finca gehörten, auf der vorher Rinder extensiv gehalten wurden. Das ursprüngliche Verhandlungsziel der Dorfgemeinschaft lag bei 1000 ha. Es gibt keinen Fluss (also kein Fischfang) und keinen Primärwald (also keine Jagdmöglichkeit, keine wilden Früchte, keine Heilpflanzen, wenig kühlenden Schatten) in der Gegend. Das Grundwasser ist für Mensch und Tier sowie zur Bewässerung von Pflanzungen aufgrund extremer Mineralhaltigkeit nur bedingt geeignet. Die Wasserversorgung stellt daher eines der Hauptprobleme dar. Sonne und Wind sind in der Ebene deutlich intensiver als in den Bergen und tragen zur Trockenheit bei.

Im Umsiedlungsvertrag zwischen Tamaquito und Cerrejón wurde unter anderem die Gewährleistung der „Servicios Publicos“ (kommunale Aufgaben) geregelt, zu denen die Wasserversorgung zählt. Außerdem wurden „Proyectos Productivos“ (Landwirtschaft, Kunsthandwerk etc.) vereinbart, die der Konzern initialisieren sollte, um Einkommensmöglichkeiten zu schaffen. Die Wasserversorgung funktioniert bis heute nicht wie vereinbart. Schafe und Rinder stehen noch immer in der Nähe von Alt-Tamaquito in den Bergen, da am neuen Ort weder ausreichend Futter noch Wasser für sie zur Verfügung stehen. Die Projekte zur Einkommenssicherung wurden nur zum Teil und mit monatelanger Verspätung begonnen. Es gibt daher kaum Verdienstmöglichkeiten am neuen Ort. Da Jagd und Fischfang nicht und Landwirtschaft nur sehr eingeschränkt möglich sind, fehlen insbesondere den Männern die Aufgaben, wodurch Alkohol verstärkt ins Spiel kommt.

In den Steinhäusern ist das Klima schlecht, außerdem knarzen und klappern die Holztüren und Fenster im Wind, der permanent in der Ebene bläst. Die Menschen schlafen daher schlechter und träumen weniger. Träume sind jedoch essenzieller Bestandteil der Spiritualität der Wayúu. Die Vorfahren sprechen zu ihnen durch die Träume und warnen so vor drohenden Gefahren. Viele Familien haben daher am neuen Ort neben dem Steinhaus eine traditionelle Lehmhütte als Schlafraum errichtet.

Es hat etwa 6 Monate gedauert, um einen Termin in der Konzernzentrale des Bergbaukonzerns Cerrejón in Bogotá zu bekommen. Vor dem ersten Treffen haben sie sich u.a. meine früheren Filme zum Thema Umsiedlung angeschaut. Dort ging es um Dörfer im rheinischen Braunkohlerevier, die vom deutschen Energiekonzern RWE umgesiedelt wurden. RWE ist auch einer der größten Betreiber von Kohlekraftwerken in Europa und als solcher ein wichtiger Kunde von Cerrejón, der große Mengen Steinkohle aus Kolumbien abnimmt.

Ranghöchster Teilnehmer bei dem Treffen war der Leiter der Abteilung „Internationale Beziehungen und Soziale Standards“. Er war zuvor Menschenrechtsbeauftragter in der Regierung von Ex-Präsident Alvaro Uribe gewesen, die nicht gerade für die Einhaltung der Menschenrechte in Kolumbien bekannt geworden ist. 
Nach zwei Stunden gaben die Konzernvertreter uns ihre Zustimmung, während der Verhandlungen zwischen der Dorfgemeinschaft Tamaquito und dem Unternehmen zu drehen. „Es wird im Film keinen bewertenden Off-Kommentar und keine Interviews geben, sondern die Szenen sprechen für sich,“ haben wir ihnen versichert, denn das war Teil unseres filmischen Konzepts. Das hat sie vielleicht beruhigt.

Vorteilhaft für uns war, dass sowohl Glencore in der Schweiz als auch Cerrejón in Kolumbien aufwändige PR-Kampagnen zur Verbesserung ihres schlechten Rufs hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung aufgelegt haben. Hintergrund ist, dass Cerrejón im Jahr 2001 das Nachbardorf von Tamaquito mit Bulldozern aus dem Kohlebergbau und mit Unterstützung von Einheiten der kolumbianischen Armee und Polizei gewaltsam geräumt und zerstört hat. Der internationale Protest gegen diesen Vorfall hat dazu geführt, dass der Konzern sich zumindest äußerlich zugänglicher gibt und im Umgang mit Journalisten und Kritikern auf Imagepflege bedacht ist. Da Deutschland ein sehr wichtiger Markt für die kolumbianische Kohle ist, wird die Berichterstattung deutscher Medien zum Thema Kohleimporte von Cerrejón genau verfolgt. 

Die Dreharbeiten im firmeneigenen Kohlehafen „Puerto Bolívar“ hat uns der Cerrejón-Konzern verweigert. Wir sind daher auf den Hafen des Prodeco-Konzerns in Cienaga ausgewichen, einem 100%igen Tochterunternehmen des Schweizer Rohstoffkonzerns Glencore plc. Bedingung des Konzerns war, dass wir keine Interviews mit Mitarbeitern führen und sämtliche Aufnahmen vor der Veröffentlichung dem Pressesprecher zeigen.